Peter HEINTEL (1940-2018)

Gewidmet als Nachruf und Hommage

 

Essay Kunst und Zeit - erschienen in der Kunstzeitschrift Passagen 2/1998

 

Der Kunst wird nachgesagt, sie sei "zeitlos". Zumindest die "grosse" Kunst habe über-zeitlich ewigen Charakter. Sie durchdauert die Geschichte, vergeht nicht so wie andere Werke und Gerätschaften. Sie bestimmt sogar Zeit, Epochen werden nach ihr benannt, zumindest gibt sie ihnen Namen und repräsentiert ihre Form, ihre Gestalt. Und selbst, wenn sie vergangen sind, die Kunstwerke bleiben, der Nachwelt zum Staunen und zum Genuss.


Was aber bleibt? Nichts war so vergänglich wie das Kunstwerk. Kriege vernichteten es, Kunstwerke waren besonderes Ziel der Zerstörung, weil man in ihnen das Heiligste eines Volkes vermutete und durch dessen Vernichtung in sein Herz traf. Mit souveräner Undankbarkeit benützte man alte Gebäude und Paläste als Baumaterial, beraubte und schändete Gräber, liess Musik und Dichtung in der Vergangenheit versinken, gab sie der Vergessenheit preis. "Fremde" Kunst und Kultur wurde höchstens als Trophäe oder Kuriosität gesammelt, man "verstand" sie nicht.

 

Dennoch, die Kunst war Gefäss eines Zeitraumes. In ihr brachte sich sein Wesentliches, sein Gewolltes und Erstrebtes zur Anschauung, zur Darstellung. Sie war Verdichtung, Zusammenfassung, gab dem Mannigfaltigen verbindende Form. In ihr gab sich eine Gesellschaft, eine Epoche den ihr zukommenden Ausdruck, in ihr konnte sie sich befestigen, feiern, rechtfertigen; in ihr geschah aber auch Kritik, Protest und Impuls für Veränderung. Zwar gab es immer auch noch weitere Formen der Zusammenfassung, der Selbstreflexion und Selbstdarstellung. Philosophie und Theologie leben aus derselben Aufgabe, sie können sich aber nicht allgemein, verständlich und verbindlich machen. Das Denken und die Abstraktion bleibt Wenigen zugeteilt und vorbehalten, für die Anderen ist es eine unzugängliche Welt. Nun ist da noch die Religion, die sich in ähnlicher Aufgabe sieht. Und lange Zeit waren Kunst und Religion untrennbar. Erst eine "Geistreligion" konnte zum Bildersturm aufrufen und die Ordnung der Sinnlichkeit gefährden. Aber selbst sie musste sich bald zur Einsicht verstehen, dass sie zu ihrer Verallgemeinerung der Hilfe der Kunst bedurfte und so blieb sie ihr bis zum Ende der großen Stile verpflichtet. Ob nun an Religion oder Staat gebunden, die Kunst zog die inneren Fäden, die alle Teile der Gesellschaft verband, sie war ständig begleitende Umgebung und auch ihre Werke, Gattungen hatten aufeinander Bezug, ergänzten sich, hatten kein voneinander getrenntes Dasein. Raum und Zeit wurden in ihnen strukturiert und geordnet, sie waren Umgebung des Lebens, seiner Bewältigung und Sinngebung.

 

Man versteht, dass sich Kunst und Stil in Gestalt und Ausdruck ändern müssen, wenn sich eine Gesellschaft für neue Wege entscheidet, eine andere Vorstellung über sich entwickelt, ein neues Verhältnis zu "seinem Gott" herstellen will. Man versteht auch, dass man sich dann, um die Unsicherheit der neuen Entscheidung zu bewältigen, undankbar gegen das Alte, das Vorgängige wendet. Eine neue Ordnung muss sichtbar gemacht werden und alle Kraft gilt ihr. Eine neue Form, ein neuer Stil blühen auf, das Alte wird abgelöst, hat keinen Bestand mehr, wird als Fessel und Einschränkung empfunden. Die Endlichkeit der Kunst wird nicht bloss durch äussere Feindschaft und Zerstörung bewiesen, sondern durch sie selbst.

 

Das Kunstwerk erhielt sein Ewigkeitsattest erst dann, als es seine umgebungs-gestaltende Lebendigkeit verlor; ihre Verbindung mit der Religion und dem Gesamten der Gesellschaft. Es war die bürgerliche Gesellschaft, die mit ihrer synthetischen Leistung nichts mehr anzufangen wusste. Sie proklamierte eine andere innere Verbindung der Gesellschaft, geformt nach ihrem Wesen, ihren Existenzprinzipien. Wirtschaft, Produktion, Geld und Vernunft sollten nun das innere Band knüpfen, die Fremdbestimmung von Religion und Kunst endgültig hinter sich lassen. In ihnen war Universalität ermöglicht, Gleichheit aller Vernünftigen und Selbstbestimmung durch Arbeit und Leistung. Die Kunst selbst wurde zum vereinzelten Werk eines Einzelnen; das Genie wurde erfunden als "Günstling der Natur". Sie wurde befreit aus ihrer Abhängigkeit von religiöser und weltlicher Macht; man erfand die Autonomie der Kunst; sie geniesst ab nun Freiheit. Die Autorität der Institution geht auf jene des "Genies" über. Allerdings muss es überleben können, sich nach der Macht und Organisation des Marktes richten. Das Werk wird Ware gemäss der Dominanz der Produktion, auch wenn dies gerne hinter einer Aura der Besonderheit versteckt wird. Man muss sich einen Namen machen und gemanagt werden; die neue Umgebung, das lebensdurchdringende Prinzip heisst Konsum, in seiner allumfassenden Macht werden selbst Produzenten zu passiv Aufnehmenden. Ein neues Stadium der Fremdbestimmung ist erreicht: weil man nicht in und mit ihr lebt, wird Kunst auch nicht mehr verstanden; sie muss sich selbst erklären oder bedarf eigener Spezialisten, die sie interpretieren und von ihr zu den Laien die Brücke schlagen. Das Genie steht unter Originalitätszwang; sein Eigenes muss zum allgemein Bewunderten und Anerkannten werden. Und keines darf ein anderes wiederholen. Diese Tatsache muss die Abfolge der Stile, Schulen beschleunigen. Frühere Epochalität schmilzt in einer Zehnjahrerythmik. Das immer Neuere wird zum notwendig Besseren. So vollzieht das Kunstwerk nach, was in der übrigen Produktion bereits Gesetz geworden: die Innovation ist das Wichtige, Unumgängliche.

 

Zugleich verehrt und geniesst man das Alte, Unverlierbare. Auch hier entdeckt man immer "Neues", Verloren-Gegangenes, Verschüttetes. Das grosse Werk wird auch in der Vergangenheit gefunden und Namen werden zugeordnet. Es wird restauriert, geschützt, vor dem Verfall gerettet. So steht es vor uns da, herausgerissen aus seiner lebendigen Umgebung in einer längst anders gewordenen Welt. Es wird zum Einzelding ohne Nachbarschaft und so bilden Atome der Vergangenheit untereinander und mit Gegenständen der Gegenwart ein wirres Ensemble.

 

Die Institution dieser Verwirrung heisst wohl Museum, deren Anfang ja das Kuriositätenkabinett war. In ihm zeigt sich die Dialektik der Verehrung. Ihre Art der Bewunderung ist zugleich Vernichtung ihres Umgebungssinnes. Verehrung lässt permanent sterben.

So mächtig war die Kunst und die mit ihr verbundenen Institutionen; so umfassend der Einfluss einer Ordnung der Sinnlichkeit, dass es Jahrhunderte bedarf, um sich von dieser fremdbestimmenden Wirkung zu befreien. Aber zugleich mit der Befreiung spürte man auch den Verlust. Die rationale Ordnung, dem Verstande nachvollziehbar, die ökonomisch bestimmten Sichtbarkeiten mit ihrem Tribut an Leistung und Preis, die technische Gestaltung unserer Umgebung und Welt, sie sind in ihrem fehlenden Zusammenhang, ihrer Nüchternheit und Billigkeit nicht schön, obgleich von Nutzen. Sie geben zwar Lebenszusammenhang, es fehlt ihm aber Selbstdarstellung, Festlichkeit und Selbstreflexion. Sie bewähren sich praktisch und in einzelnem Gebrauch. Ihre Bewährung verbietet Nachfrage und Relativierung. Der Gebrauch adelt und ist seine eigene Ästhetik. Die Kunst läuft nebenher, gefördert noch von einem antiquierten schlechten Gewissen über den Verlust ihrer Bedeutung. Hin und wieder kommt noch die Idee an ein "Gesamtkunstwerk" auf, ob in romantischer Nostalgie in Bayreuth oder in Form der Gewalt der faschistischen Ästhetik. Dieses Aufblitzen von Anspruch macht aber nur mehr deutlich, was Kunst war und welche Kraft in ihr und verführende Gewalt gesteckt hat.

 

Verehrung bedeutet aber nicht nur sterbenlassen; sie will etwas festhalten. Was kann dies in unserem Fall sein? Das einzelne Werk hat seine Umgebungsbedeutung verloren, es ist in Museen zu Tode gekommen. Auferstehung aber setzt Tod voraus. So wird es Symbol eines Überganges. Zwar hat es seine alte lebendig beherrschende Funktion verloren, es bewahrt aber Absicht, Grund und Form. Die Absicht ist es, sich zur alltäglichen Welt eine Differenz zu bewahren, der Grund ist deren Zufälligkeit, Endlichkeit und Unvollkommenheit, die Form beruht auf unserer schöpferischen, freien Sinnlichkeit, in der sich Menschen einen anderen Zusammenhang geben können, als in den Werken eines sie reduzierenden und notwendig abstrahierenden Verstandes. Die Kunst entbindet wieder von ihm und lässt uns freier werden gegenüber seiner zwingend-einschränkenden Gewalt. Vergangen ist also ihre fremdbestimmend-verführerisch-vereinnahmende Macht, ihr einheitsstiftender Ausdruck, ihre ordnende Autorität. Die Verehrung hält sie aber aufrecht, gleichsam als Platzhalter für Sinnzugänge des Menschen zu sich, den anderen und der Gesellschaft, die eindimensionale Entwicklungen vermeiden helfen.

 

Die Einheit der Gesellschaft ist Illusion und kann niemals durch eine Kultur oder Kunst hergestellt werden; schon gar nicht aus einer vergangenen; denn diese war immer regional, national, bestenfalls kontinental. Es ist nicht bloss Arbeitsteilung, Spezialistentum, Individualismus, Rollenvielfalt, Verlust von Normautorität der Institutionen, die uns Pluralismus und Zerfall gebracht haben. Es ist vielmehr mit ihnen die Einsicht verbunden, dass Einheitsbildungen auch mit Hilfe der Kunst stets der Gefahr des Selbstverlustes ausgesetzt waren. Es war eben gerade auch die Kunst, die diese Fremdbestimmung nicht nur unterstützte, sondern in ihr gleichsam ein heiteres Leben zu versprechen schien. Zerfall und Entfremdung gehen jeder Autonomie voraus, und so treffen sie auch die autonome Kunst. Sie zerfällt in "E" und "U", in ihre Gattungsvielfalt, in technische Spezialitäten, der "uomo universale" ist Geschichte. Und sie entfremdet sich ihrer Umgebung, wird zum eigenständigen, für sich stehenden Werk. Aus ihm verlieren sich die Menschen.

 

Vergangene Epochen waren deshalb souverän gegenüber ihren Vorgängern, weil sie sich selbst für das höchstmöglich Erreichte, für etwas Anderes hielten. In ihren Künsten waren sie bestrebt, dieses darzustellen und dafür zu danken, Kunst war Dienst an Gott und den Göttern. In ihnen nämlich war das Erreichte begründet. Das Werk war Gabe und Erinnerung daran; es war Mittel und Vermittlung. Das spätere Werk verliert diesen Charakter, diesen Bezug. Es ist gefesselt in den Grenzen seiner selbst. Es wird zum besonderen Ding, Gegenstand neben anderen. Vom Gebrauch her erscheint es nutzlos, man kann es aber sammeln. Es verbraucht sich nicht, gewinnt an Wert je älter es ist. Das Alter bringt es in die Nähe der "klassischen Kunst" und heute altert Neues schnell. Früher war es Gegenwart und Umgebung, die Kunst war Erscheinung der gleichen Zeit; man feierte in und mit ihr. Jetzt wird das gegenwärtige Werk, weil es so bloss für sich steht, erst etwas, wenn es bereits vergangen ist.

 

Wir haben uns kollektives Selbstbewusstsein ausgelagert; es hat seinen Ort nicht mehr in sich (seiner Fähigkeit der Selbstreflexion und Selbstdarstellung), sondern in seinen Tätigkeiten und nützlichen Produkten. Sie schliessen aneinander an und weisen in eine unendliche Zukunft; wir haben die offene Epoche erzeugt. Fortschritt heisst, dass das immer Bessere folgt; dass man eigentlich nie guten Gewissens irgendwo stehenbleiben darf, weil man sonst zum Verhinderer wird. Das Erreichte kann nie erfüllen, es weist über sich hinaus; es kann nur unvollkommen sein. Das Bewusstsein über diese Unvollkommenheit treibt voran, das Vollkommenere daran zu setzen usw. Wir können in unserer Gegenwart nie selbstbewusst werden, weil wir unser Selbst bereits an sein zukünftiges Werk verloren haben. Die Dialektik der Vollkommenheit besteht aber darin, dass sie immer ist und nie. Das wussten frühere Epochen und sie machten sich diese Dialektik selbst zum Werk. Dies liess sie innehalten, sie mussten nicht rastlos suchen und alles Gefundene wieder verwerfen. Trotz Wissen über ihre Unvollkommenheit produzierten sie Werke für die Ewigkeit; sie waren ewig, weil sie da waren und nicht weil sie alt waren.

 

Was soll Kunst heute eigentlich noch? In ihrer vergangenen Bedeutung ist es mit ihr vorbei, in ihrer Verehrung stirbt sie täglich, als Werk unterliegt sie dem Schicksal aller übrigen Produktion; es muss eines auf das andere folgen und sich verkaufen lassen. Der Paradigmenwechsel der bürgerlichen Welt hat unser Zusammenleben auf ein anderes Fundament gestellt. Ökonomie und Technologie ist das innere Band, das die Weltgesellschaft zusammenhält, ihre Kultur und Religion. Ihr Erfolg hat uns vielerlei Entlastung gebracht und ungeheuren Reichtum. Und er hat uns aus Knechtschaft, Sklaverei und unauflöslichen Abhängigkeiten befreit. Erst in ihm wurden Selbstbestimmung, Autonomie möglich, das Individuum als freie Person Programm. War früher das Selbstbewusstsein gleichsam kollektiv unbewusst, durch Institutionen verwaltet und über Kunst vermittelt, wurde es jetzt aufgeweckt. Vorerst aber nur dem Individuum überantwortet. Es sollte frei sein, Gewissen und Verantwortung heben und tragen. Man wollte den archimedischen Punkt finden, von dem aus die neue aufgeklärte Freiheit zu entwickeln war. So wurde auch der Künstler zum autonomen unabhängigen Subjekt erklärt und weil die Kunst etwas Besonderes, Heiliges war, musste er auch zum besonderen Subjekt erklärt werden. Diese "Heiligsprechung" der Person hat Individuen zwar zu hervorragenden Leistungen angetrieben, sie mussten ihrer Auszeichnung gehorchen, hat ihnen aber eine Autorität verliehen, die für die weitere Entwicklung der Kunst nicht nur vorteilhaft war. Über Personen vermittelt behielt sie nämlich auf diese Art ihre fremdbestimmende Rolle und sie teilte die Menschen in Künstler (Genies) und Konsumenten.

 

So erstaunlich es sein muss, was an tatsächlicher Genialität auf diese Weise zunächst hervorgebracht wurde, die Arbeitsteilung dieser Art hatte ihren Preis. Die so ausgezeichneten Individuen waren gezwungen, bis zur Erschöpfung alle Energien aus sich herauszuholen und oft bezahlten sie mit gesellschaftlicher Grenzgängerschaft oder einem rastlos schaffenden kurzen Leben. Auf der anderen Seite steht der verständnislose Genuss, der allmählich sprach- und begriffslos geworden die Zwischenwelt der Interpreten, Kritiker, Spezialisten etc. hervorbringt, die sich ihre Autorität von jener der Künstler leihen. Dennoch hat man den Eindruck, dass alles unverbunden nebeneinander steht. Die Kunst also in individuelle Autonomie und Autorität zu entlassen wird ihrer traditionellen Aufgabe nicht gerecht – das soll sie auch gar nicht mehr – begründet aber auch keine neue. Dieser Vorgang etabliert eher ein Zwiegespräch zwischen Kunst- und Geldautorität, für beide förderlich. Die bürgerliche Gesellschaft – eben durch ganz andere Prinzipien und Kulturgestalten zusammengehalten als Kunst und Religion – kann nun mit Kunst etwas "anfangen". Die Heiligsprechung der Person garantiert ein besonderes Werk. Und dieses hat seinen Preis. Kunst wird Wertaufbewahrungsmittel, eine andere Form der Aktie und eine "sicherere". Denn bei Aktien, Futures und Options wird mit Erwartung und Zukunft spekuliert. Darauf ist das Kunstwerk nicht angewiesen. Gerade im Gegenteil: indem es altert, Geschichte und Vergangenheit bekommt, wird es wertvoller. Dieser Prozess ist nicht zu verhindern. Allerdings kann er, so seltsam dies klingt, beschleunigt werden, man muss nur dafür sorgen, dass das Werk möglichst rasch zur "Klassik" der Moderne wird. Kunst wird also wertvoller dadurch, dass sie nicht mehr Gegenwart ist, sondern bereits vergangen ist. Unmittelbare Wirksamkeit aus plötzlichem Auftreten ist nicht so sehr gefragt. Kunst wirkt aus ihrem nicht mehr Gegenwartsein. Man überbrückt diese Seltsamkeit mit jener Hilfshypothese, die Autorität und Originalität noch zu stärken versucht. Man sagt, der Künstler sei eben seiner Zeit voraus und diese muss ihn erst einholen, also muss er Vergangenheit werden, damit man ihn versteht, sich an ihn gewöhnt. Ob dies wirklich so ist?

 

Dem Künstlerindividuum Autorität zu verleihen war wohl ein erster und notwendiger Schritt, die Kunst selbst aus ihrer fremdbestimmten Abhängigkeit herauszuholen. Sie sollte nicht mehr nur der religiösen und der staatlichen Macht zu Diensten sein. Das Individuum selbst soll Bestimmungsmacht seines Werkes werden. Der geheime Plan der bürgerlichen Gesellschaft sah aber nicht nur die Autonomie der Kunst selbst vor, er wollte und musste auch die Menschen aus Verführung und Abhängigkeit von der Kunst befreien. Letzteres ist nur halb gelungen. Indem sie Kunst zur Ware gemacht, und Künstler zu Genies, hat sie einerseits für Wirkungslosigkeit gesorgt, andererseits die Kunst ihrer neuen Gesellschaftssynthese unterworfen. Dieser Schritt mag geglückt sein. Immer aber noch stehen die "Laien" wortlos staunend vor den "großen Werken" und sind ihnen gegenüber nicht "freier" geworden als sie früher waren; auch wenn sie sie zuhauf konsumieren. Einverleiben und Verschlingen war immer schon ein Versuch, Fremdes, Fremdbestimmendes zu bewältigen, zu "eigen" zu machen. Der zweite Schritt müsste eigentlich das Thema umkehren und fragen: wie gewinnt eine Gesellschaft Freiheit, Selbstbestimmung in und durch Kunst? Wie wird das Werk zum "Mittel"?

 

Die Kunst hat diese Frage längst anerkannt und ihren Veränderungsprozess eingeleitet. Nicht immer trifft sie auf Verständnis. Bei dem einen deshalb, weil sie um ihren Wert fürchten, bei den anderen, weil sie Konsumenten bleiben wollen. Es ist nicht einfach, Autonomiezumutungen anzunehmen und sich selbst plötzlich ins Werk einbezogen zu sehen. Klar ist aber, dass aus dem alten großen Anspruch der Kunst auf Syntheseleistung ein schlichterer, unspektakulärer werden muss; und auch daran sind wir nicht gewöhnt.

 

Es scheint mir, dass sich Johannes Angerbauer hier konsequent auf den Weg gemacht hat. Nicht er allein ist mehr die künstlerische Autorität, die fertige Werke zum Bestaunen oder zur Ablehnung vorlegt, es sind Besucher, Freunde, Kollegen, die das unfertige Objekt zum Werk machen. Sie hinterlassen ihre Spuren und diese sind namenlos; dennoch Ausdruck der hereinkommenden und vorbeigehenden Gesellschaft, die ihr Kommen und Gehen aufbewahrt sieht. Sie selbst hat etwas geprägt, indem sie sich anschaulich wird, und es ist gerade die Flüchtigkeit eines zufälligen Schrittes, die Festigkeit und in ihr Bedeutung bekommt. Dafür sorgt schon das Gold, das hier sowohl Symbol des Wertes ewiger Materie ist, das weich und formbar, dennoch Metall, den Glanz des Ewigen bei sich führt, dem man nun mit respektvoll zögerndem Schritt sich annähert und sich kaum getraut, "es mit Füßen zu treten". Es ist aber genau dieser Akt, der den Übergang beschreibt; das Ewige muss begangen, betreten, auch getreten werden, sonst gibt es keinen Platz in ihm, sonst gewinnen wir keine Selbstbestimmung in der Kunst. Und es ist genau dieses Zögern, diese stumme Aufforderung zum Innehalten, die uns darauf aufmerksam macht; wir alle, die wir hier darübergehen und prägende Spuren hinterlassen, sind eigentlich Künstler, wenn Kunst das ist, was uns alle zu einem gemeinsamen Werk verbindet. Dieses Werk ist nicht vorgegeben, nicht fertig, es wird erst. In diesem Werden gehen wir unseren Schritt und lassen mit anderen prägende Spuren zurück, all diese zusammen vollenden ein Werk. Zu Beginn steht das überraschte Zögern und Innehalten, aufkommende Gedanken und Gefühle setzen sich in Schritte um, am Ende steht der Beschluss, diese Zwischenzeit zum Werk zu erklären. Das Kunstwerk wird zur Darstellung besonderer Prozesse.

 

Kunst und Künstler ändern damit ihre Rolle. Die Kunst ist nicht mehr individuelle Werkkunst, sondern "Interventionskunst". Sie unterbricht durch ungewohnte Arrangements Alltäglichkeit, setzt Irritation, schafft Pause und Verzögerung. Sie führt uns keine Werke mehr vor, sie lässt uns selbst zum Werk werden; wir alle hinterlassen in ihm Spuren und sie beschreiben Wege. Das Werk bewahrt sie und schafft Zusammenhang zwischen Zufall und Vollendung. Der festgehaltene Augenblick zeigt Flüchtigkeit und Dauerhaftigkeit zugleich. Betrachtung und Erinnerung erneuert immer wieder diesen Widerspruch.

 

Der Künstler hat seine Werkautorität abgegeben. Für Entstehung und Vollendung sind nun alle zuständig. "Alle Menschen sind auf ihre Art Künstler, wenn man sie nur lässt", was bleibt für den Künstler, ist er überflüssig geworden? Ich glaube nicht, nur seine Rolle wird eine andere. Aus der Werkautorität wird eine Interventions- und Prozessautorität. Er arrangiert und irritiert, er zwingt zu Differenz und Reflexion, er steuert über technisches Wissen und Objekte Prozesse und er macht auf diese Weise alle anderen zu Autoritäten der Mitgestaltung. Aber nicht jeder einzelne ist für sich Autorität, er hinterlässt zwar seine Spuren, aber nur in Verbindung mit anderen werden sie insgesamt Werkautorität. Mag immer auch noch das Resultat als wichtig bevorzugt sein, der Prozess des Zustandekommens tritt mit gleicher Wichtigkeit an seine Seite; er schafft auch immer die Anknüpfung für Erinnerung.

 

Dies ist vielleicht der Weg der Kunst, die in ihrem Schaffen zu sich selbst befreit, jenseits von Autorität und Konsum, die "Werke" schafft, in denen der Prozess dieser Selbstbefreiung, dieses reflexiven Innehaltens sichtbar wird. "Sie manifestiert (symbolisiert) sich im Prozess des Begehens, in der feinsten Spur, im unsichtbaren Goldmolekül, das durch die Schuhsohle des Besuchers das Gebäude verlässt, zur Erde zurückkehrt und damit den Kreis schliesst", wie Johannes Angerbauer sagt. Der Prozess formt ein kollektives Werk und gibt in Anerkennung seiner Endlichkeit gleichsam als Opfer das Gold wieder der Erde zurück.

 

Klagenfurt, 10.02.98

 

Nachruf auf Univ. Prof. Dr. Peter Heintel https://www.aau.at/blog/peter-heintel-verstorben/

 

Bibliografie https://www.aau.at/wp-content/uploads/2018/07/Bibliographie-Peter-Heintel.pdf

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